Jahresthema 2024

 

Dem Leben vertrauen lernen

 

Das Jahresthema des letzten Jahres war „Das Leben willkommen heißen“ und so ist es nur folgerichtig, dass wir, wenn wir es willkommen geheißen haben, ihm auch vertrauen lernen müssen. Aber da steht zunächst einmal wieder die Frage im Raum, was das Leben eigentlich ist.

Wenn wir geboren werden, also zu leben beginnen, sind wir vollkommen hilflos und ausgeliefert. Aber im Unterschied zu uns Erwachsenen, die wir uns in Situationen, in denen wir hilflos und ausgeliefert sind, unwohl fühlen und leicht Angst und Panik bekommen, geht es Neugeborenen offensichtlich gut in ihrer Hilflosigkeit. Das liegt daran, dass das Leben sie auf dem Weg in diese raue Welt mit einem tiefen Vertrauen, ja einem Urvertrauen ausgestattet hat. Aus dem paradiesischen Mutterleib, in dem wir immer mit Wärme, Nähe und Nahrung versorgt waren, treten wir durch den Geburtskanal in eine Welt ein, die ganz anderer Natur ist.

Wer wie ich in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts in einem Krankenhaus geboren wurde, hat nach dem Verlassen des Paradieses im Mutterleib wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen gemacht wie ich. An den Füßen Kopf nach unten gehalten gab es den Klaps auf den Po, der die Neugeborenen zum Schreien brachte. Das sollte den Lungen dabei helfen ihre Funktion aufzunehmen. Nachdem wir gewaschen, gemessen und gewogen waren, durfte unsere Mutter uns in den Arm nehmen und stillen. Weil die Geburt für Mutter und Kind Stress bedeutet, hat es die Natur (wer oder was ist eigentlich die Natur?) so eingerichtet, dass in der ersten Muttermilch beruhigende Substanzen enthalten sind, die uns Neugeborene wieder beruhigen.

Die Beruhigung im Arm und an der Brust der Mutter währte aber meist nicht lange, weil wir Säuglinge dann von der Mutter weg ins Säuglingszimmer gebracht wurden, damit die Mütter ihre Ruhe hatten und sich von den Strapazen der Geburt erholen konnten. Wenn wir schrieen, wurden wir in der Annahme, dass wir Hunger hatten, zum Stillen zur Mutter gebracht. Wenn wir satt waren, ging es zurück ins Säuglingszimmer. In unserer ersten Nacht begann man dann mit der Erziehung: Wir sollten lernen, dass man nachts schläft. Dann konnten wir uns im wahrsten Sinne des Wortes die Seele aus dem Leibe schreien, man brachte uns erst wieder zu unserer Mutter als der Tag anbrach. So lernten wir die erste große Lektion in unserem Leben, dass unsere Hilflosigkeit etwas Schlimmes ist, Nähe und Nahrung uns mal gegeben werden und mal nicht. Da wir kein Zeitgefühl hatten, waren die Nächte der Trennung endlos und das Gefühl der Verlassenheit grub sich während unserer ersten Lebenswoche im Krankenhaus tiefer und tiefer in uns ein. Ich weiß nicht, wie meine Mutter es dann zu Hause gehandhabt hat. Was ich aber weiß, ist, dass ich als ich bereits ins Gymnasium ging, immer wenn meine Mutter nicht zu Hause war als ich aus der Schule kam, dachte, dass sie tot sein müsse. Diese Verlustangst hat mich noch lange begleitet, obwohl ich immer wieder die Erfahrung machte, dass sie lediglich beim Einkaufen mit einer Nachbarin ins Gespräch gekommen und die Zeit vergessen hatte.

Über eine ganze Zeit konnte ich nur im Bett meiner Eltern einschlafen und sie trugen mich, wenn sie selbst ins Bett gingen, schlafend in mein Bett in mein eigenes Zimmer. Als ich dann gelernt hatte in meinem eigenen Bett einzuschlafen, wachte ich regelmäßig mit der Angst auf, meine Eltern seien tot. Ich ging dann runter ins Wohnzimmer, wo sie vor dem Fernseher saßen und fragten, was ich denn noch wolle. Ich sagte dann, dass ich noch hungrig sei und machte mir ein Müsli. Das ging so lange, dass ich langsam dick wurde. Mit meinen Eltern habe ich nie über meine Ängste gesprochen.

Erst Jahrzehnte später hat man begriffen, dass auch Neugeborene Gefühle haben und dass die ersten Erfahrungen, die wir auf dieser Welt machen, von grundlegender Bedeutung für das ganze weitere Leben sein können. Zum Glück ist es heute allgemein üblich, dass die Neugeborenen gleich nach der Geburt der Mutter auf den Bauch gelegt werden und auch bei der Mutter bleiben.

Das ist meine ganz persönliche Geschichte, die ich allerdings mit vielen Altersgenossen teile. Persönliche Geschichten sind immer individuell und trotzdem gibt es Gemeinsamkeiten. Fast allen Menschen ist gemein, dass sie im Laufe ihres Lebens, die einen früher und die anderen später, aus dem Urvertrauen gerissen wurden, in dem sie vor ihrer Geburt im Mutterleib und wenn sie Glück haben, auch noch nach ihrer Geburt noch waren. Solange wir keine negativen und beängstigenden Erfahrungen machen, fühlen wir uns, obwohl hilflos und abhängig, wohl und geborgen. Durch traumatische Erlebnisse – welcher Art auch immer – beginnt sich das uns mitgegebene Vertrauen dann langsam in Misstrauen zu verwandeln.

Wenn das Vertrauen schwindet, wächst die Angst, die Angst vor dem Tod, die Angst vor dem Leben, die Angst vor dem Morgen und die Angst vor dem Fremden. Schauen wir auf die Entwicklung nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern auch in anderen Ländern, dann sehen wir die Auswirkung von Angst im Leben einzelner wie auch in politischen Entwicklungen. Nicht nur in Deutschland gibt es Parteien, die sich von der Angst nähren, Angst schüren, um mit fragwürdigen Lösungsvorschlägen auf Stimmenfang zu gehen.

Dem Leben (wieder) vertrauen lernen – was heißt das und wie kann das gehen? Wichtig ist zunächst einmal (Ur-) Vertrauen von blindem Vertrauen zu unterscheiden. Beim blinden Vertrauen geben wir die Verantwortung ab; wir legen unser Wunschdenken zugrunde und vertrauen, dass das schon so sein wird wie wir uns das vorstellen – zumindest kenne ich das so aus meinem Leben. Urvertrauen ist in hingegen etwas, das die Verzerrung der Wirklichkeit nicht nötig hat. Urvertrauen ist an keine Bedingungen geknüpft; es bleibt auch unter Umständen, die einem fürwahr Angst machen können, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen oder Besorgnis erregenden globalen Entwicklungen. Urvertrauen verdrängt auch nicht die für unser (Über-) Leben wichtige Angst, die uns zum Handeln bringt, wenn Gefahr droht. Das schafft nur blindes Vertrauen, das die Gefahr verdrängt. Urvertrauen entspringt einer ganz anderen Ebene, es stammt aus unserem tiefsten Inneren, dem göttlichen Funken, der unserer Seele innewohnt. Aber wie können wir damit in Kontakt kommen?

Vom Prinzip her ist es ganz einfach: Wenn die Oberfläche zur Ruhe kommt, erscheint die Tiefe von alleine. Wenn die Sonne, die mit ihrem Licht alles überstrahlt, untergeht, erscheinen die Sterne. Unser Denken, Wollen und Tun, die Aktivitäten unseres Ich überstrahlen die tieferen Schichten unseres (Bewusst-) Seins, die sich von alleine zeigen, wenn wir uns von den Aktivitäten an der Oberfläche unseres Bewusstseins nicht mehr ablenken lassen. Genau das üben wir in der Meditation. In der Meditation durchdringen wir in einem klaren Geist die verschiedenen Ebenen unseres Oberflächenbewusstseins, in dem uns unsere Gefühle und Verhaftungen, unsere Verletzungen und unsere Verblendung, unsere Wünsche und unsere Widerstände begegnen. Wir beginnen uns im Spiegel unseres klaren Geistes zu sehen wie wir sind und hören auf uns zu sehen, wie wir uns gerne hätten. Natürlich bedarf es einiger Übung diesen klaren, unabhängigen und ruhigen Blick nach innen zu entwickeln, aber es lohnt sich: In diesem Blick bzw. in dieser Achtsamkeit geschieht Wandel, all die uns von unserer innersten Natur trennenden Bilder, Vorstellungen und Einstellungen beginnen sich – langsam – aufzulösen wie ein dichter Nebel in der stärker werdenden Sonne. Das braucht Zeit – viel Zeit.

In der Meditation wie sie hier verstanden wird suchen wir keinen Zugang zu unserem wahren Wesen an den Verblendungen und Irrtümern unseres Egos vorbei, sondern wir schauen in sie hinein und, wenn sie beginnen sich aufzulösen, durch sie hindurch. So ist einigermaßen gewährleistet, dass sich am Ende nicht unser kleines Ich der spirituellen Erfahrungen bemächtigt und anfängt sich damit zu brüsten. In der Meditation entsteht also ein Raum, in dem alles, was uns ausmacht, Platz hat: unsere Verletzungen, dass, was uns von unserem Urvertrauen abgeschnitten hat und unsere innerste Natur, deren Erfahrung uns wieder an das verschüttete Urvertrauen anschließt. So können wir langsam wieder vertrauen lernen.

Alle Erfahrungen, die wir gemacht haben, sind in unserem energetischen Feld gespeichert, die angenehmen wie auch die traumatischen. Dabei versperren die schmerzhaften Erfahrungen uns oft den Weg in unsere eigene Tiefe. Wenn man in Japan einen Tempel besucht, dann muss man oft an erschreckenden Wächtergestalten vorbei, die mit rollenden Augen, Schwertern und grimmigem Gesicht am Tor zum Tempel stehen. Hier kommt zum Ausdruck, dass wir, wenn wir ins Innere des Tempels vordringen wollen, als erstes an Furchterregendem vorbei müssen. Auf dem Weg in unser eigenes Inneres ist es nicht anders. Schrecken wir vor den noch nicht gelösten traumatischen Erfahrungen, die ein jeder von uns in sich trägt, zurück, dann wird es schwer sein, die tieferen und tiefsten Schichten unseres Seins zu erreichen. Die in der Meditation entstehende Präsenz leuchtet die verschiedenen Bewusstseinsebenen unseres Inneren aus. Schritt für Schritt erfahren wir, wer wir sind, welche Persönlichkeitsanteile wir in uns tragen und am Ende, wenn die Präsenz sich in ausdauernder Übung verfeinert hat, werden wir auch der Ebenen unseres Seins gewahr, die nicht mehr der Welt des unterscheidenden Denkens, des Wollens und ichverhafteten Fühlens angehören. Wir kehren zurück in die Welt, aus der wir kommen, in der es keine Grenzen in Raum und Zeit gibt, in der wir geborgen und aufgehoben sind.

Nicht die Vorstellung, dass alles gut gehen wird, ist die Quelle des Vertrauens, sondern die Wirklichkeit, die sich zeigt, wenn sich die Wolken der Verblendung aufgelöst haben. Die Wünsche unseres Ich (Egos) bilden die Wolken der Verblendung, während die Sehnsucht nach der Erfahrung unseres innersten Wesens uns die Energie liefert, die uns hilft die Wolken der Verblendung zu transzendieren, um die Welt zu erfahren, die hinter aller Begrenzung liegt. Erst dann sind wir wirklich frei und finden Frieden und die Quelle eines Vertrauens, das uns durch die Herausforderungen unseres Lebens führt.